Geschichte 5
Linus, Papa und das Spiel mit den Zahlen Visuelle Strukturen als Brücke zum nächsten EntwicklungsschrittObwohl Linus erst 4 Jahre alt ist, kennt er schon viele Zahlen. Er sagt diese sogar in mehreren Sprachen auf. Toll 😊. Wenn Linus Zahlen sagt, dann ist englisch, spanisch oder deutsch keine Schwierigkeit. Auch Fotos von Tieren oder Gegenständen in Büchern kann er benennen. Meist sitzt er dann allein mit seinem Buch auf dem Boden. An andere Menschen richtet Linus seine Sprache jedoch kaum. Er weiß noch nicht, warum und wie er seine Eltern rufen könnte.
Liegt Linus auf dem Boden und sein Vater setzt sich zu ihm, beginnt oft ein gemeinsames „Zahlenspiel“. Linus kennt die Regeln ganz genau. Immer sagt der Vater die erste Zahl. Linus antwortet mit „2“. Sagt Papa „3“, freut er sich über das Aufsagen der „4“. So geht es weiter bis zur 20, um dann wieder von vorn zu beginnen. Dieses Spiel könnte er immerzu, auf gleiche Art und Weise und mit großer Ausdauer in den verschiedenen Sprachen spielen. Auch der Vater spielt gern dieses Spiel mit seinem Sohn. Denn …
… Spielen ist auch für autistische Kinder eine wichtige Entwicklungsaufgabe.
Gern würde er seinem Sohn auch neue Spielideen geben. Seinen verbalen Vorschlägen und Erklärungen scheint Linus jedoch nicht folgen zu können.
Wie kann es gelingen, gemeinsam ein neues Spiel mit den Zahlen zu spielen?
Toll wäre es auch, wenn Linus das alte oder neue Zahlenspiel auch mit Mama, dem großen Bruder oder sogar mit den Kindern im Kindergarten spielen würde. Linus wäre dann der „Zahlenlehrer“ 😉. Ein schöner Gedanke.
Was braucht Linus, um das Spiel auch mit anderen Familienmitgliedern oder im Kindergarten zu spielen?
Seine Eltern beraten sich mit den anderen Eltern in der Elternschulung. Wer hat Erfahrungen? Wer hat Ideen?
Hier ist die gemeinsam gefundene Lösung (verkürzt!) beschrieben:
1. Der Vater legt 20 Steckbausteine in eine Schüssel. Er setzt sich zu Linus auf den Boden und das Spiel kann beginnen. „1“ startet der Vater, hebt dabei einen Baustein in Linus Blickfeld und steckt ihn auf die Grundplatte. Linus sagt „2“. Der Vater nimmt einen 2. Baustein und steckt ihn auf…. Versteht Linus sein Handeln? Beobachtet er die neue Regel? Steckt er vielleicht auch einen Baustein auf, so wie es der Vater tut? Es macht nichts, dass Linus noch nicht mitspielt.
Der Vater weiß, dass Linus Beobachtungszeit braucht.
2. Am nächsten Tag ist Linus neugierig. Er setzt sich auf sein Kissen, damit er alles besser sehen kann. Wieder steckt der Vater die Bausteine auf. Linus ist noch nicht so mutig. Vielleicht kann er das Hinschauen, Nachdenken, Sprechen und das Agieren mit den Armen nicht so schnell zusammenbringen?
Der Vater ist geduldig.
PRIMA!
4. Linus hat das Aufstecken verstanden. Es gelingt ihm immer besser, mit beiden Händen zu arbeiten. Das ist nicht so einfach. Sein Bruder ist ein wichtiger Helfer. Heute gibt es eine kleine neue Regel: Die Bausteinschüssel wird zwischen Vater und Linus hin und her gereicht. Auch hier ist der Bruder ein „unsichtbarer“ Helfer.
Beim Hin und Her geben der Schüssel fängt der Vater Linus Blick ein. In der Elternschulung wurde oft von den Möglichkeiten der Förderung von Kontakt und Interaktion im Familienalltag gesprochen. Blickfangspiele und Anstrahlen lassen sich gut im Alltag anwenden.
Der Vater strahlt Linus immer wieder an. Und manchmal lächelt Linus schon ein wenig zurück.
5. Den letzten Baustein steckt Linus auf. Fertig. So ein schöner großer Turm. Das Spiel ist zu Ende.
Für autistische Kinder ist es wichtig, den Beginn, das gemeinsame Tun und das Ende einer Handlung zu überblicken.
Deshalb fehlt noch etwas Wichtiges. Denn eine autismussensible Pädagogik zeigt sich vorallem darin, den Kindern Sicherheit und Orientierung zu geben. Visuelle Zeichen und Systeme haben dabei eine handlungsleitende und verhaltensregulierende Funktion (vgl. z.B. TEACCH®)
6. Das Material des neuen Zählspiels kommt in eine Kiste. An der Kiste ist eine Karte angebracht. Anhand dieser Karte soll Linus erkennen, welche Spielidee in der Kiste sein könnte.
Die Eltern nutzen Linus Interesse und Stärke für visuelle Details und wählen ein leuchtendes Gelb aus.
Linus entdeckt die Karte mit den aufgezeichneten Zahlenbausteinen sofort.
Durch diese Vorhersehbarkeit kann er sich viel besser auf eine Handlung einlassen. Und da der Vater nicht sofort spricht, darf Linus die Botschaft der Karte ganz allein „lesen“. PRIMA, Linus!
Linus hat gelernt, dass alle Menschen, die ihm die Kiste zeigen, gern mit ihm das Zahlenspiel spielen wollen.
Linus spielt es nun auch mit seiner Mama und mit den Kindern im Kindergarten.
7. Und wie kann Linus das Ende der Spielzeit erkennen? Sind alle Zahlen oft genug gesprochen und Zahlentürme in englischer, spanischer und deutscher Sprache aufgebaut wurden, ist es Zeit für das Ende. Alle Bausteine und die gelbe Karte kommen in die Kiste. FERTIG!
Welche Kompetenzen können bei diesem Spiel erworben werden? Mehr lesen
- die Aufmerksamkeit teilen und gemeinsam handeln
- sich auf eigene Initiative einer Spielhandlung zuwenden
- Handlungsmotivation entwickeln (KAHM nach Schatz und Schellbach, 2008)
- eigeninitiiert Blickkontakt aufnehmen
- das Abwechseln üben
- etwas festhalten und gezielt loslassen
- Hilfe annehmen (Führen nach Affolter)
- Zeit verstehen: Beginn und Ende einer Aktivität / JETZT und das Konzept FERTIG
- Raumstrukturen erfahren (hier auf der Decke spielen wir)
- mit beiden Händen arbeiten (Haltehand- Aktionshand) …
Und jetzt ….
…. sich gemeinsam freuen über diese großartige Leistung.