Geschichte 4

Alina und der gelbe Ball
Objekte als Übergangshilfe bei Situationswechseln
Alina (5 Jahre) konnte lange Zeit nicht in den Kindergarten gehen. Seit fast 7 Monaten sah sie ihre Erzieher*innen nicht. Sie konnte auch nicht mit ihren Freund*innen zusammensein. Sie war krank.
Nun ist es soweit. Alina darf wieder in den Kindergarten. Alle Kinder freuen sich auf sie. Die Eltern sorgen sich jedoch. Wird Alina „einfach so“ nach langer Zeit wieder in den Kindergarten gehen? Wechsel in ihren gewohnten Alltagsabläufen mag Alina überhaupt nicht.
Am Morgen sprechen die Eltern mit Alina. Ruhig und geduldig beschreiben sie, was es im Kindergarten alles zu entdecken gibt. Aber als sie später in die Straße zum Kindergarten einbiegen, beginnt Alina bitterlich zu weinen. Sie nimmt den Arm der Mutter und möchte umkehren.
Die Eltern nehmen ihre Tochter auf den Arm und tragen sie weinend bis zum Kindergarten. Alle sind hilflos und traurig: Alina, ihre Eltern, die Erzieher*innen und die Kinder, denn Alina kann sich nicht beruhigen.

Abb. 1 Während ihrer Krankheit sind Alinas Eltern täglich mit ihr zur Brücke gelaufen. Alina kennt den Weg genau. Sie freut sich auf den Fluss und möchte Steine hineinwerfen. Immer trägt sie ein paar davon in ihrer Tasche bei sich.

Wie können die Eltern Alina erklären, dass sie heute nicht zum Fluss, sondern zum Kindergarten gehen wollen?

Spiele-grüne-rote-Punkte

Abb. 2: Plötzlich biegen die Eltern mit Alina in die Kindergartenstraße ein. Jetzt wird Alina sehr wütend. Sie möchte doch zum Wasser gehen!

Wie können Eltern, Erzieher*innen und Alinas Freund*innen helfen, damit sie sich wieder auf den Kindergarten freut?

 

Das ist eine schwierige Frage, auf welche es keine einfache Antwort geben kann. Denn viele Stärken und Herausforderungen des Autismus werden in dieser Situation plötzlich sichtbar. So wird beispielsweise Alinas Stärke, sich Abläufe gut zu merken und diese auch beständig einzuhalten, jetzt zu einem Hindernis. Auch ihre Vorliebe sich an Details zu orientieren, hindert sie daran, die vielen Informationen der Eltern zu erfassen …

Alina und ihre Eltern erleben eine Krisensituation. Jedoch können in einer Krise neue Verhaltensweise nur schwer erlernt werden. Das kennt bestimmt jeder von sich selbst. Erlebt man Stress, weil z. B. etwas anderes geschieht als erwartet oder man zu viele Dinge erledigen muss oder weil man sich nicht richtig vorstellen kann, was in den nächsten Momenten passieren wird, oder weil wir vielleicht auch die Sprache der anderen nicht verstanden haben …, dann möchten wir uns doch auch am liebsten aus all dem Stress zurückziehen, weglaufen oder einfach laut rufen: „Ich will das jetzt nicht tun! Das ist mir alles zuviel!“. So wie Alina.

Die Eltern, die Bezugserzieherin und die Autismuspädagogin treffen sich zu einem kleinen Unterstützerkreis, um sich abzustimmen.

Fotos und Tasche mit Kreuz
Abb. 3: Ein kleiner Unterstützerkreis findet am Nachmittag im Kindergarten statt. Wie können alle zusammen eine „Brücke“ für Alina bauen, damit sie das Übergangshindernis überwinden kann?

Gemeinsam werden Beobachtungen und Vermutungen zusammengetragen. Die Unterstützer*innen möchten Alina verstehen, um die Situation autismussensibel zu verändern.

Familienmitglieder, die nicht mitspielen können.
Sie beschließen:

Eine gemeinsame positive Spielerfahrung soll Alina helfen, sich auf den Tag im Kindergarten zu freuen.

Alle Dinge, welche Alina mag, sollen in ein tägliches „Begrüßungsspiel“ eingebunden werden. Dieses Spiel soll für Alina eine Brücke in den Kindergartenalltag sein. Dabei wird beobachtet, mit welchen Objekten Alina besonders gern spielt. Eines davon soll ein Übergangsobjekt werden (Referenzobjekt).

Als Alina am nächsten Tag weinend an der Kindergartentür steht, wird sie von ihrer Erzieherin mit einem strahlenden Blick und einem „Spielkorb“ begrüßt. In der Fachberatung mit der Autismuspädagogin hatte sie schon viel über eine alltagsintegrierte Kontakt- und Interaktionsförderung erfahren. Sie weiß, das Anstrahlen ist ein bedeutsames Element 😊. Noch im Flur beginnt das Spiel. Es heißt: „Was rollt, springt, purzelt, plumpst … von oben nach unten?“ Die Erzieherin hat 2 Spielexperten mitgebracht. Akin und Sebastian wissen schon ganz genau, wie dieses Spiel geht und können Alina helfen.

 

Das Team der Spielgruppe:

Akin und Sebastian sind Spielexperten

Alina ist (noch) Spielanfängerin

Frau Schmidt
Führt durch das Spiel.

Kleiner Tipp: Dieses Vorgehen findet sich im Konzept der Integrierten Spielgruppen (IPG – Integrated Play Groups®) von Pamela Wolfberg (2019). Durch Methoden der geführten Teilnahme sind gemeinsame Spielerlebnisse von Spielanfängern und Spielexperten möglich. Ein sehr empfehlenswertes Modell 😊!

Abb. 4: Viele Ideen bringen die Spielexperten ein. Alina staunt und freut sich besonders über den hüpfenden gelben Ball. Der Treppenaufgang und eine schiefe Ebene werden zum Spielplatz. Immer wieder rollen und hüpfen Bälle, Walzen, Röhren, Strumpfbälle etc. nach unten.

Die Erzieherin beendet das Spiel, indem sie ein Lied zum Abschluss singt und ein Tuch über den Korb ausbreitet, nachdem alle Materialien wieder in diesem verwahrt sind. Alle hatten große Freude. Alle hatten beobachtet, dass Alina am liebsten die gelben Bälle aus dem Bällchenbad springen und hüpfen liess.

 

Alina bekommt ein „Kindergartenzeichen“.

 

 

 

Jetzt geht es in den Kindergarten.

Im Kindergarten wird der Ball ausgepackt und in den Spielkorb gelegt. Und nun startet wieder das gemeinsame Spiel. Geschafft! Das Spiel ist eine Brücke in den Kindergartentag geworden. Nun können die nächsten Schritte besprochen werden.

Abb. 5: Einige Zeit später ist aus dem Ball eine Objektkarte geworden, welche stellvertretend für den richtigen gelben Ball steht.

Liebe Leser*innen, dies ist natürlich nur eine Geschichte von vielen. Und vorallem ist es die Geschichte von Alina. Was ihr geholfen hat, hilft nicht allen Kindern. Aber vielleicht finden Sie auch ein Übergangsobjekt, mit welchem Ihr Kind eine schwierige Situation, ein Hindernis besser überwinden kann?

Ihre Silke Schellbach